„Blutorangen“ oder Orangen mit Herzblut
Von Bernhard Laß (12.11.2024)
Gegensätze ziehen sich an. Zwei Welten – eine Verstrickung.
Südfrüchte, wie schmackhaft und lecker das klingt, nach Urlaub am Meer, Fernweh und dolce Vita.
Mittelmeer, Bootsflüchtlinge, Lampedusa, illegale Migration, Sklavenarbeit, wie bitter und grausam das klingt, nach Lager, Slums, Ungewollt, Abschiebung und Tod.
Was in unseren Ohren nach Erzählungen aus zwei verschiedenen Welten klingt, ist im Alltag zwischen der Nordküste Afrikas, den Anbaugebieten u. a. in Italien, unseren Lebensmittelmärkten und unserem Lebensstil ganz tief und eng miteinander verwoben. Wie? Darüber gab am Abend des 11.11.2024 der Ethnologe und Soziologe mit dem Arbeitsschwerpunkt Migration, Prekarität und Europäisches Grenzregime, Prof. Dr. Gilles Reckinger engagiert Auskunft.
Er ist als Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten tätig und hat in seiner Forschungsarbeit über einen längeren Zeitraum afrikanische Erntehelfer in Kalabrien u.a. auf den Orangenplantagen begleitet. Mit seiner Forschungsarbeit zum Thema: „Bittere Orangen - Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa“ konnte er Hintergründe beleuchten, vertiefende Informationen liefern und sich anschließend zur Diskussion stellen.
Aus Kalabrien kommen aber auch die fair gehandelten und ökologisch angebauten Orangen, die der Weltladen Iserlohn seit einigen Jahren im Winter in jeweils zwei Verkaufsaktionen anbietet, um die Organisation „SOS Rosarno“ zu unterstützen. Und so hat der Weltladen zusammen mit dem BildPunkt im Pastoralverbund Iserlohn Prof. Dr. Gilles Reckinger zum Vortrag in das Forum St. Pankratius eingeladen.
„Ich bin überrascht, froh und dankbar, dass so viele Menschen trotz des nasskalten Wetters, Karneval und St. Martin heute hier hergefunden haben, um sich einem traurigen und unansehnlichen Thema zu stellen“, sagte er sichtlich erstaunt bei der Begrüßung der gut 80 Besucherinnen und Besucher, durch Frau Susanne Knufmann vom Pastoralver-bund Iserlohn und Pfrn. i.R. Helga Henz-Gieselmann vom Weltladen Iserlohn.
Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa
Unterlegt mit Bildmaterial und Grafiken konnte Prof. Reckinger die Gäste auf eine Reise zu den Menschen in Kalabrien an Italiens Stiefelspitze und dort zur Stadt Rosarno und ihrer Region mitnehmen. Dort werden auf einer großen Ebene Orangen für den europäischen- und Weltmarkt auf riesigen Plantagen angebaut. Dass sie im internationalen Preiskampf mithalten können, ist zum einen dem dafür günstigen Klima, Sommer warm und trocken, Herbst nass und kalt, zu verdanken, doch vor allem den ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und menschenunwürdige Lebensbedingungen der migrantischen Erntehelfer, die für einen Hungerlohn Sklavenarbeit verrichten. Sie bilden in dieser strukturschwachen Gegend Italiens als illegalisierte Afrikaner das Rückgrat der Obst- und Gemüseindustrie. Als ihr schwächstes Glied sind sie der Willkür von Gutsbesitzern, Vorarbeitern, aber auch von Übergriffen der Rassisten und der Politik ausgeliefert.
Wer die Fahrt über das Mittelmeer überlebt und in Lampedusa ankommt, wird in Lagern untergebracht, dort registriert und ihr Asylantrag wird der Überprüfung zugeführt. Nach wenigen Tagen werden sie entlassen und ohne nennenswerte Unterstützung auf die Straße gesetzt. Ohne irgendwelche Papiere sind sie sich ab jetzt selbst überlassen. Was sie bekommen, ist eine Prepaidkarte für ihr Handy, mit einem Guthaben von 5,00 €, auf dem sie angerufen werden, wenn ihr Antrag bearbeitet ist. Doch das kann viele Monate bis Jahre dauern, in denen sie sich überwiegend selbst versorgen müssen. Mit viel Gück kommt die Anerkennung als Asylbewerber oder eine Duldung, doch meistens ist es ein Papier, Prof. Reckinger nannte es „Hau-ab-Papier“, das sie auffordert innerhalb von 10 Tagen das Land zu verlassen. Einige versuchen nach Norden über den Brenner tiefer in die EU zu gelangen, die meisten tauchen in der Illegalität unter. Selbst die, die wieder in ihre Heimatländer oder in andere afrikanische Länder zurück gehen wollen, können es nicht, da ihnen dafür benötigte Papier bewusst vorenthalten werden, so Prof. Reckinger.
Zum Sterben zu viel – zum Leben zu wenig
Um zu überleben, verdingen sie sich auf dem Arbeiterstrich als Tagelöhner auf den Plantagen. Ihr „Verdienst“? Für eine Kiste mit 22 kg Orangen erhielten sie bis vor kurzem 50 Cent und für eine Kiste mit 22 kg Clementinen waren es 1,00 €. Im diesem Jahr 2024 soll der Lohn auf 70 Cent Orangen und 1,30€ Clementinen gestiegen sein. So schaffen sie es als Tagelöhner bei guter Auftragslage in einem Jahr ca. 1000 bis 1500 € zu erarbeiten. Doch das gilt nur, wenn sie morgens mitgenommen werden und in den Monaten, in denen irgendwo geerntet wird, saisonweise Arbeit finden. Gewohnt wird in elenden Zeltstädten und unter Plastikplanen, ohne Strom und Wasserversorgung und so unter miserablen Hygieneverhältnissen. Medizinische Versorgung und Schulen gibt es offiziell nicht. Jetzt im Herbst ist die Nässe eines der größten Probleme, da sie keine wetterfeste Kleidung haben und die nasse Kleidung schlecht trocknet.
Doch sicher sind ihre Verschläge nie. Denn immer wieder wird eine Zeltstadt auf Anweisung z.B. der Regierung, früher vom Innenminister Matteo Salvini, mit Bulldozern niedergewalzt, um der Bevölkerung ihre Durchsetzungskraft gegen die illegale Migration vorzutäuschen. Doch in Wirklichkeit wäre der Orangenanbau ohne die Migranten nicht wirtschaftlich und nicht konkurrenzfähig. Nur durch diese Entmenschlichung und Sklavenhaltermentalität kann der Anbau aufrechterhalten werden und haben wir billige Orangen in unseren Supermärkten liegen, so Prof. Reckinger.
Zusätzlich erschwert und verkompliziert wird die Situation durch die Mafia, deren „Gesetz“ die Region bestimmt, sowie die rechte, rassistische Politik und Stimmung im Land.
Von Solidarität und Menschlichkeit
Ein anderes Bild, ein Bild von Menschlichkeit und Solidarität konnte Prof. Reckinger aber auch aufzeigen. Denn in den Zeltstädten hat sich unter den migrantischen Bewohnern, die aus vielen verschiedenen Ländern, mit sehr unterschiedlichen Fluchtgeschichten, Kulturen, Sprachen und Religionen stammen, neben den Konflikten, die es natürlich auch gibt, ein Miteinander und Füreinander entwickelt. Vielfach nach Geschlechtern getrennt, aber auch gemeinsam von Frauen, Männern und Kindern leben sie eine Solidarität, die sie nach Ansicht des Professors zu den Europäern macht, die wir werden müssen. „Du hast nichts, aber das teilst du. Du wirst gebraucht, du bist da!“, ist eine der Devisen des Zusammenlebens. Viele sprechen mehr als acht Sprachen und sind Vermittler zwischen den Bewohnern und der „Welt da draußen“. Feiern die Christen eines ihrer Feste, nehmen die Muslime Rücksicht und spielen z.B. in der Zeit kein Fußball und umgekehrt. Das sind vielleicht nur kleine Beispiele, doch sie zeigen, wie sich eine solidarische Gesellschaft, zusammengepfercht auf engstem Raum, entwickelt. Neugeborene bekommen von ihren Eltern italienische Vornamen, denn ihnen ist klar, hier werden sie auf Dauer leben.
Süß statt Bitter – neue Wege
Um zur Integration und zu einem geordneten besseren Leben in Sicherheit beizutragen und Konflikte der Bevölkerung Rosarnos mit den Migranten zu verhindern und ein Miteinander zu fördern, hat sich die Organisation „SOS Rosarno“ in Zusammenarbeit mit der dortigen Waldenser-Kirche gegründet. Ein Unternehmen ist entstanden, das den Migranten feste versicherungspflichtige fair bezahlte Arbeitsverträge gibt und sie so zu Papieren gelangen können, die sie aus der Illegalität bringen, ihnen einen Aufenthaltsstatus verschafft und sogar zu einer Wohnung verhelfen kann. Zusammen mit der Waldenser-Kirche und ihrem Verein Mediterranean Hope werden Fahrräder mit Licht ausgestattet, um die Pflückerinnen und Pflücker auf den stark befahrenden Straßen zu den Plantagen in der Dunkelheit vor lebensgefährlichen Unfällen zu schützen. Mit den „Häusern der Hoffnung“ haben sie Wohnprojekte umgesetzt und weitere angestoßen, in denen für eine entsprechende Miete Wohnraum angeboten wird.
Überzeugt von dem Projekt setzt sich die Ev. Kirche von Westfalen und das Bistum Münster für den Vertrieb der Orangen von SOS-Rosarno bei uns ein und hat viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter gefunden. Inzwischen werden viele Tonnen fair erzeugter und ökologisch angebauter Orangen über Kirchengemeinden, Weltläden und anderen Organisationen in Westfalen und darüber hinaus verkauft, die ein Zeichen eines fairen Wandels sind. Sie setzen dem Verkauf von „Blut-Orangen“ durch den Kauf der Orangen mit Herzblut etwas entgegensetzen. Ein Projekt, das ansteckt und Motivation für eine Region im Wandel ist, die solidarische Unterstützung dringend braucht.
Nach so einem engagierten Vortrag und intensiver Diskussion war auch der Bücherstand am Ende des Abends gut umringt. Denn in seinem Buch: „Bittere Orangen - Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa“, das auch über die Bundeszentrale für politische Bildung vertrieben wird, hat er Berichte von vielen persönlichen Begegnungen und Erfahrungen niedergeschrieben, die die intensiven Eindrücke des Abends weiter vertiefen können.
Fotos Bernhard Laß : 1 Frau Susanne Knufmann PVI bei der Begrüßung von Prof. Dr. Gilles Reckinger 2 Ein gut besetzter Saal im Forum St. Pankratius 3 Prof. Reckinger engagiert beim Vortrag 4 Interessierte Nachfrage